Supertramp

Die Idee, ein Projekt durchzuführen, welches den Jugendlichen ermöglicht freiwillig, selbst bestimmt und mit kleinem Budget in den Urlaub zu reisen, kam in einer Teamsitzung erstmalig zur Sprache.

13.5.2020

Es wurden Ferienanträge der Jugendlichen diskutiert und ich machte die Beobachtung, dass vor den Ferien ein Punkt in der Prioritätenliste der Jugendlichen ganz oben steht. Wie kann ich mit begrenzten finanziellen Mitteln einen erlebnisreichen Urlaub verbringen?

Die Problemlösungsstrategien der Jugendlichen beziehen sich mehrheitlich auf Geld ausleihen oder Zuhause zu bleiben. Eine nachhaltige Variante ist dies nicht, werden doch nur die Schulden höher und die Arbeitsmotivation tiefer, wenn es an das Zurückzahlen derselben geht. Mir war es ein grosses Anliegen, das Bedürfnis der Jugendlichen aufzunehmen und mit den Jugendlichen zusammen nach neuen Strategien und Möglichkeiten zu suchen, wie man Ferien alternativ verbringen kann.

In mehreren informellen Gesprächen habe ich versucht herauszufinden, welchen konkreten Bedarf die Jugendlichen in ihrer Ferienplanung haben. Sie legten meist Wert auf Freiheit und Abenteuer. Die Möglichkeit in den Ausgang zu gehen, fremde Länder kennenzulernen und bei dem ein oder anderen auch Kontakte zum anderen Geschlecht herzustellen, waren häufig genannte Ziele. Bei mir kam die Erinnerung an meine eigene Ausbildungszeit. Wie ging ich damals mit wenig Geld und dem Wunsch andere Länder, Menschen und Städte zu entdecken um? Ich erzählte in der nächsten Teamsitzung von meinen Tramperfahrungen und der Idee, ein solches Projekt mit den Jugendlichen durchzuführen. Die Rückmeldungen waren positiv und die Gedanken, welche ich mir anschliessend machte zeigten, dass es theoretisch möglich ist, die Projektidee umzusetzen. Ich begann mir weitere Vorüberlegungen zu machen und vertiefter in die Planung einzusteigen.

Auf Basis meiner täglichen Dokumentation während des Trampens möchte ich hier unseren Alltag, Erlebnisse, Fahrten und Aufenthaltsorte während der Reise chronologisch darlegen. Da die pädagogische Bedeutung des Projektes besonders im Tagesablauf ersichtlich wird, formuliere ich in der Retrospektive den pädagogischen Fokus des jeweiligen Tages.

Erster Tag, Donnerstag, 5. September 2019

Die Reisevorkehrungen sind getroffen. Wir sind freudig aufgeregt, als wir am Vorabend in unserem Supertramp Gruppenchat letzte Vorbereitungen, Erinnerungen an die Packliste und GIFs (Dateiformat für Bilder) posten.

Nachdem wir D. von der Berufsschule abgeholt haben, kommen wir an der ersten Raststätte um ca. 17 Uhr an.

Ab jetzt sind wir auf uns gestellt. Ich persönlich spüre Aufregung. Was, wenn uns keiner mitnimmt? Was, wenn die Motivation der Jungs schon am ersten Tag fällt? Hoch motiviert versuchen wir die ersten Autofahrerinnen und Autofahrer anzusprechen.
Schliesslich haben wir nach guten zwei Stunden Erfolg. Zwei junge Männer auf dem Weg von Leipzig nach Luzern nehmen uns mit in Richtung Gotthard. Wir unterhalten uns über ihre Berufe, über deren Ausflug zu langjährigen Freunden, über vernünftigen Umgang mit Betäubungsmitteln und Fussball. Die beiden netten Herren nehmen schliesslich noch einen Umweg in Kauf und lassen uns auf einer Raststätte zwischen Luzern und Gotthard raus. Eine spannende erste Fahrt. Da es nun allerdings schon dunkel wird, sehe ich wenig Chancen, mitgenommen zu werden. Wir versuchen es trotzdem bei einigen Autofahrerinnen und Autofahrern. Kein Erfolg. Einer der Jugendlichen äusserte, „lieber zuhause chillen zu wollen, stattdessen muss er nun hier stehen“. Bemerkenswert: der andere Teilnehmer liefert ihm Gegenargumente und sorgt somit für mehr Motivation, gänzlich ohne mein Einwirken. Nach dem Vorschlag von M. beschliessen wir, in die Raststätte zu gehen, einen Tee zu trinken und weiter zu beraten. Dies ist unsere erste Statusbesprechung. Wir schildern gegenseitig unsere Eindrücke von den ersten Versuchen und der ersten Fahrt. Anschliessend beschliessen wir, uns eine Möglichkeit zum Übernachten zu suchen. Eine günstige, offizielle Übernachtungsmöglichkeit gibt es auf dieser Raststätte nicht. Nach ausgiebiger Diskussion erklären sich alle drei Reisenden einverstanden, wild zu Zelten. Wir gehen durch das Törchen hinter der Raststätte und suchen uns nahe an einem Feldrand eine geeignete Stelle im Wald. Es ist noch feucht, doch es regnet nicht mehr. Gemeinsam machen wir uns also daran unsere Zelte im Unterholz des Waldes aufzubauen.

Wir unterstützen uns gegenseitig, sodass jeder ein mehr oder weniger windschiefes Zelt zum Übernachten hat. Anschliessend sammeln wir noch etwas Holz, um ein kleines Lagerfeuer zu schüren. Diese Idee kommt von den beiden Jungs. Besonders D. zeigt sich als Fan von dem Abenteuer im Wald zu übernachten, obwohl er dies noch nie getan hat. Das Einschlafen dauert in dieser unbekannten und abenteuerlichen Situation trotzdem bei allen ein wenig länger…

Pädagogischer Fokus: Am ersten Tag steht für mich das Kennenlernen als Gruppe im Vordergrund. Ich versuche zwischen beiden Jugendlichen Gesprächsanreize zu setzen, da diese aus verschiedenen Milieus kommen und noch nicht viel zusammen unternommen haben. Besonders interessant fand ich den Einblick, wie beide Jugendlichen sich ausserhalb des Kontextes der Stiftung zeigen und zu Themen wie Drogenkonsum, Alkohol am Steuer oder Gewalt durch Hooligans, Stellung beziehen. In den Gesprächen am Lagerfeuer konnten wir absolut auf Augenhöhe Meinungen zu Themen wie bspw. den Umgang mit neuen Medien austauschen. Ich betrachte diesen Austausch als sehr wertvoll, da er ausserhalb des Zwangskontextes geschah und somit auf Augenhöhe abgehalten werden konnte.

Zweiter Tag, Freitag, 6. September 2019

Im Regen bauen wir unsere Zelte ab. Die Nacht verlief reibungslos, wenn auch einer von uns dreien schnarchte, störte wenigstens kein Wildschwein.

Nachdem alles eingepackt war, gingen wir wieder zu der Raststätte und versuchten von neuem unser Glück. M. war sehr engagiert im Leute ansprechen und wollte sichtbar, dass wir weiterkommen. Schliesslich nahm uns eine Frau aus Belgien mit. Wie wir im Gespräch später rausfanden, kam sie gerade von ihrer Tochter, welche nun neu in Brüssel studiert. Ihr Englisch war nicht besonders gut, irgendwie schafften wir es aber alle drei uns zu verständigen. Eine Sprachbarriere war das erste Mal vorhanden, hatte aber keinen grossen Einfluss auf das Projekt. Die Risikoanalyse und Massnahmen zeigte Wirkung und bestätigte sich. Als wir schliesslich schon am zweiten Tag den Gotthard durchquerten, feierten wir das gemeinsam Erreichte in Form eines Kaffees an der Raststätte „Gottardo Sud“. Relativ zügig ging es dann weiter, es schien, als wenn wir den „Flow“ gefunden hätten. Ich fand einen Herrn, der uns mit nach Verona nehmen würde. Nach einer kurzen internen Klärung, ob wir das Angebot annehmen wollten, sagten wir kurzentschlossen und sehr positiv gestimmt zu. Er war alleine mit dem Auto seines Vaters unterwegs und arbeitete im olympischen Komitee als ehemaliger Kanu-Profisportler. Seine Freundin ist die Trainerin einer Synchronschwimmnationalmannschaft. Der berufliche Werdegang interessierte uns natürlich, besonders die Jugendlichen schienen trotz leichter Sprachbarriere jedes Wort aufzusaugen. Ich versuchte bei Unklarheiten zu übersetzen. Nach etwa vierstündiger Fahrt brachte uns der Herr zu einem Zeltplatz inmitten einer alten Burgruine, nahe der Altstadt von Verona. „Leider könne er uns nicht zu sich einladen, da Verwandte aus Australien da sind, er bedauere dies sehr“, hiess es noch zum Abschied. Am Abend sind wir sehr zufrieden auf einem wunderschönen Campingplatz. Wir kochten unserem Campingstandard entsprechend Dosenravioli mit dem Gaskocher. Nachdem die bisherige Reise problemlos ablief und ich die beiden Jugendlichen als sehr verantwortungsbewusst erlebte, bot ich ihnen an, dass sie auch ohne mich in die Stadt gehen könnten, um diese zu entdecken. Zu meiner Überraschung kam ein Veto durch einen der beiden Jugendlichen, „Mir sin zame da ane kho, jetz gönd mer au zame id stadt“. Der Ausflug in die schöne Altstadt und der Besuch des Balkons von Julia und Romeo runden den Tag ab.

Pädagogischer Fokus: Anhand der Aussage, dass wir zusammengekommen sind und jetzt auch zusammen in die Stadt gehen, kann ich feststellen, dass diese Reise auch in der Beziehungsgestaltung ihre Wirkung zeigt. Im Kontext des Jugendwohnheimes wäre so ein Satz wohl nie gegenüber einem Sozialpädagogen gefallen. Dies ermöglicht mir, wie bereits oben erwähnt einen Austausch auf anderer Ebene mit den beiden Jugendlichen. Während diesem Austausch wurde zum Beispiel auch ersichtlich, dass einer der beiden Jugendlichen Angst hatte, Ablehnung zu erfahren, somit traute er sich weniger Leute anzusprechen. Eine starke Einsicht, wie ich finde. Ebenfalls unterhielten wir uns am Abend über unsere interessante Mitfahrgelegenheit: In der Evaluation später sollte der Herr, welcher uns nach Verona mitnahm, von den Jugendlichen als beeindruckende Person genannt werden. Details aus den Biografien beider Jugendlichen wurden ersichtlich und diskutiert. Unter anderem tauschten wir zu den Themen christliche Werte, Gangsterimage, Rituale in der Familie, das aktuelle Schulsystem, Geschwister, Gewalt, Konsum etc. interessante und aufschlussreiche Gedanken aus. Als Thema des heutigen Tages versuche ich beiden Jugendlichen mitzugeben, wie man mit positivem Denken und Auftreten sowie gezielter Fragestellung eine Situation positiv beeinflussen kann.

Dritter Tag, Samstag, 7. September 2019

Nachdem wir einige Gäste des Zeltplatzes am Morgen fragten, ob sie uns mitnehmen könnten und jeweils negative Antworten bekamen, entschieden wir uns beim Frühstück gemeinsam aufgrund des anhaltend schlechten Wetters und der zu zentralen Lage des Zeltplatzes (Trampen erschwert möglich), mit dem Zug nach Süden zu fahren. M. findet einen interessanten Ort, an dem die Sonne scheint und es Meer gibt. Ebenfalls fährt dort ein Zug hin.

Schon während der Zugfahrt setzen sich die pädagogisch wertvollen Gespräche fort. Was würde man tun, wenn man im Lotto gewinnt? Und warum? Macht Geld glücklich oder Zeit zu haben? Warum gibt es keine Schulfächer, die einen über Emotionen oder Beziehungen etwas lehren? Als wir schliesslich in Pesaro nahe Rimini ankommen, entscheiden wir uns, zum ausgesuchten Zeltplatz zu laufen. Wir gehen Richtung Strand und freuen uns gemeinsam sehr über das Erreichte.

Das erste Mal die Füsse ins Meer halten! Ein grossartiger Moment für uns alle. Als wir schliesslich nach einer guten Stunde Fussmarsch am Zeltplatz ankommen, sind wir begeistert. Er liegt direkt am Strand. Als es ohrenbetäubend laut wird, erkennen wir allerdings den Nachteil, Zuggleise liegen direkt dahinter. Gemeinsam beschliessen wir, trotzdem unsere Zelte aufzubauen. Für den Abend habe ich das Kartenset dabei und so lernen beide Jugendliche das Pokern. Um dem Ganzen einen kreativen, und nicht einen Casino-Charakter zu verleihen, denken wir uns Einsätze aus. So nehmen wir Muscheln, Zigarettendrehfilter und Steine als Einsätze. Einer der spassigsten Abende der Reise beginnt.

Pädagogischer Fokus: Die Gespräche während der Zugfahrt waren für mich als Sozialpädagoge gut geeignet, um Anreize zu setzen, Ideen und Lebensvorstellungen von M. und D. herauszufinden, zu unterstützen oder zu hinterfragen. Des Weiteren haben wir heute und während der gesamten bisherigen Reise erlebt, wie man mit einer positiven Einstellung und aktivem Zugehen auf Menschen sprichwörtlich sehr weit kommen kann. Ich benutze diese Metapher im Gespräch am Abend. Man kann unsere Erlebnisse auch auf das Leben übertragen und sich selbst, den Mitmenschen und der Umwelt Vorteile verschaffen. Die positive Grundstimmung kann einem sogar helfen, große Herausforderungen zu meistern, wie z. B. eine Ausbildung zu bewältigen.

Vierter Tag, Sonntag, 8. September 2019

Heute schlafen wir aus, so gut, wie das die Güterzüge hinter dem Zeltplatz zulassen. Wir beschliessen, den Tag in Ruhe anzugehen und es uns am Strand in der Sonne gut gehen zu lassen. Wir leihen uns Sportgeräte und Luftmatratzen von Zeltplatz Bewohnern und können so einen abwechslungsreichen Tag am Strand verbringen. Dies geschieht, mit Ausnahme des feinen italienischen Espressos und der Focaccia, gänzlich ohne Konsum.

Pädagogischer Fokus: Partizipative Entscheidungen sind schon einige gefallen während der Reise. Sie wurden immer im Kollektiv abgestimmt. Dies funktioniert reibungslos aber ich kann wahrnehmen, dass ich die beiden Jugendlichen immer wieder aktiv nach ihren Meinungen fragen muss, weil sie fast schon erwarten, dass ich eine Entscheidung treffe. Wenn ich diese Frage aber stelle, finden wir immer einen Weg, der alle zufriedenstellt. Die Entwicklungsaufgabe „Entwickeln eines ressourcen- und bedürfnisgerechten Konsumverhaltens“ wird heute in Form eines genügsamen und trotzdem abwechslungsreichen Tages am Strand angegangen und am Abend beim Kochen mit dem Gaskocher thematisiert.

Fünfter Tag, Montag, 9. September 2019

Am Morgen des fünften Tages sind wir immer noch am Zeltplatz an der Adria. Wir beschliessen, dass wir uns Fahrräder ausleihen, um am Strand in das nächste Städtchen zu radeln.

Man merkt, wie beide Jungs sehr offen und flexibel in der Tagesgestaltung sind. Wir können am Nachmittag besprechen, wie wir den Rückweg gestalten möchten. Wir alle stellen fest, dass wir eigentlich noch ein wenig weiter möchten und dafür aber mehr Zeit bräuchten. Für ein nächstes Mal, so sagen wir, merken wir uns das. Ich lese in einem mitgenommenen Buch von einer autark und selbstversorgend-lebenden Gemeinschaft in der Nähe von Piacenza. Ich erzähle beiden Jugendlichen davon und frage, ob es Interesse gibt, dies anzuschauen. Ich war gespannt, wie die Beiden auf meinen Vorschlag reagieren würden. Die Jugendlichen zeigen sich sehr offen und neugierig, sie zeigten sich bereit für die Einsicht in eine neue Lebenswelt. Ich kläre ihre Motivation nochmals ab, indem ich nachdoppele. Ich möchte sichergehen, dass ihnen nicht etwas aufgezwängt wird oder sie nur mitkommen, weil es mein Abschlussprojekt ist. Nachdem sie mir beide bestätigen können, was sie daran interessiert, überlegen wir, wie wir dorthin kommen können. Es gibt keine Zug- oder öffentlichen Verbindungen in das Bergdorf und da es sehr abgeschieden ist, wird es wohl auch schwierig, eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen. Ich entscheide mich, das Reisebudget für einen günstigen Mietwagen zu investieren, indem ich zwischen meinen gesetzten Zielen, möglichst wenig Geld zu verbrauchen und der Erfahrung, welche beide Jugendliche machen könnten, abwäge. Da wir selbst mit Benzin- und Mautkosten im Rahmen des Notfallrückreisebudgets liegen, ist für mich klar, dass der Lernerfolg, zu dem es kommen kann, höher einzuschätzen ist, als das monetäre Einsparpotential.

Pädagogischer Fokus: Ich konnte feststellen, dass es den Jugendlichen teilweise sehr schwer fällt, fremde Leute anzusprechen und um Hilfe zu bitten. Zudem äusserte, wie bereits erwähnt, einer der beiden Teilnehmenden, dass er Angst habe, Ablehnung zu erfahren und sich seine Versagensängste dann Bewahrheiten könnten. Ich thematisiere das Thema „Nehmen und Geben“ in einem unserer Gespräche. So frage ich beispielsweise, ob sie es als dreist empfinden, fremde Menschen um Gratis-Mitnahme zu fragen, Sportgeräte oder gar Waschmittel auszuleihen. Es zeigte sich, dass beide selbst sofort „geben“ würden, wenn sie jemand fragen würde. Um Hilfe zu bitten kann aber offensichtlich den Anschein erwecken, dass man selbst nicht alles im Griff hat. Ein Stück weit auf Hilfe angewiesen zu sein, kann also ihre Souveränität in Frage stellen. Aufgrund unserer bisherigen ausschliesslich positiven Erfahrungen, stelle ich ihnen folgende Gegenfrage, um darüber nachzudenken. „Warum sollten andere Menschen anders denken als sie und nicht gerne geben?“ Ein Entwicklungsfeld eines der beiden Jugendlichen ist es, Hilfe auch in herausfordernden Situationen annehmen zu können. Die Beantwortung dieser Frage könnte meiner Meinung nach auf die Zukunft der beiden einen positiven Einfluss nehmen.

Sechster Tag, Dienstag, 10. September 2019

Um vom Zeltplatz zum Autoverleih zu kommen, entschliessen wir uns wieder zu trampen. Ein freundlicher Herr nimmt uns gegen 09:30 Uhr mit. Als Beweggrund uns mitzunehmen nennt er, dass er nicht in die Arbeit möchte. Er sei Anwalt bei einer grossen Bank, aber seine Arbeit langweile ihn sehr. Wir sind ihm eine willkommene Abwechslung. Dies war ein sehr spannender und ehrlicher Einblick in das Leben eines Menschen, der offensichtlich wohlsituiert war und dennoch gewisse Zweifel hegte. Nachdem beide bei der Mietwagenübergabe interessiert beobachten und sehen konnten, wie man späteren Rückforderungen der Verleihfirma vorsorgen kann, sitzen wir schliesslich im Mietwagen. Es ist ersichtlich, dass beide den Luxus einer Stereoanlage und lauter Musik vermisst haben. Sie freuen sich, als wir mit lauter Musik über die Autobahn fahren. Selbst der Stau, in welchen wir geraten, wird zu einer humorvollen musikalischen Erfahrung. Unser Motto hierfür: „Stau ist, was du draus machst“. Wir kamen gegen Abend bei der autark-lebenden Gemeinschaft an und wurden dank erfolgter Vorankündigung durch mich willkommend empfangen. Nachdem wir einen Rundgang über das Gelände gemacht hatten, boten uns die Bewohner an, im Gästezimmer nächtigen zu können. Dies im Gegenzug für ein von uns zubereitetes Essen. Im ersten Moment stimmen wir alle zu. Aufgrund der inkongruenten Mimik und Gestik der beiden Jugendlichen nehme ich jedoch wahr, dass dies mit einer gewissen Skepsis geschieht. Da es meinem Auftrag und unseren Abmachungen entspricht, absolut sicher zu gehen, dass sich jeder Mitreisende wohl fühlt und einverstanden ist, berufe ich eine Statusbesprechung unter sechs Augen ein. Das Ergebnis dieser Besprechung war, dass wir uns eine Alternative zur Übernachtung in dieser Gemeinschaft suchen möchten. So verabschieden und bedanken wir uns und fuhren in Richtung Piacenza ab. Da es dort regnet und bereits dunkel ist, suchen und finden wir schliesslich ein Hotel, in welchem wir nächtigen können.

Pädagogischer Fokus: Für mich stand am heutigen Tag das Kennenlernen von anderen Lebensgemeinschaften und Lebenswelten im Vordergrund. Wir bekamen eine Führung von einem Herrn, welcher aufgrund eines Burnouts eine 6-monatige Auszeit in der Gemeinschaft verbringt. Er zeigte uns das angebaute Gemüse, welche Tiere dort gehalten werden und berichtete uns vom Tagesablauf dort. Aufgrund der Gespräche und dem Interesse beider Jungs konnte ich feststellen, dass dies eine ihnen bisher unbekannte Welt war und in fernerer Zukunft vielleicht ihr Handlungsrepertoire erweitern könnte.

Siebter Tag, Mittwoch, 11. September 2019

Am Tag der Rückreise geben wir unseren Mietwagen in Como ab und möchten von dort aus zurück nach Zürich trampen. Am Bahnhof von Como sieht D., dass ein Zug direkt nach Zürich fährt und fragt sich und uns, warum wir jetzt trampen müssen? Wiederholt kann ihn M. motivieren, den eigentlichen Ursprung unserer Reise nicht zu vergessen.

So stellen wir uns an die Strasse und halten die Daumen raus, bis wir schliesslich von eine jungen Dame mitgenommen werden. Anschliessend braucht es noch zwei weitere Mitfahrgelegenheiten, bis wir am Abend um ca. 22 Uhr in Zürich an der Hardbrücke rausgelassen werden. Nach diesem Erfolgserlebnis hatten wir riesige Freude, das Ziel erreicht zu haben und setzen uns stolz in einen Bus um das letzte Stück zur Stiftung zurückzulegen.

Pädagogischer Fokus: Bei der Rückfahrt achtete ich besonders darauf, dass beide Jugendlichen nochmals ein Erfolgserlebnis beim Trampen haben können. Ich hielt mich sehr zurück, sodass sie diese Fahrt selbstständig „klar“ machen konnten. Dies klappte einmal. Trotzdem, dass wir etwas traurig waren, dass diese abenteuerliche und abwechslungsreiche Reise zu Ende geht, überwog die Freude, dass wir unsere Ziele erreicht haben und zuhause sicher sehr viel zu erzählen haben. Wir verabschiedeten uns mit wohlwollenden Worten. Am nächsten Morgen, als die Arbeit und der Alltag wieder begannen, sendete ich beiden Jugendlichen eine motivierende Nachricht, welche ihnen den Wiedereinstieg etwas erleichtern sollte.